Frieder Vogelmann
100 Jahre Soziologie an der Goethe-Universität
Frankfurt am Main
10. Dezember 2019
»Der springende Punkt […] ist also der, daß nicht etwa die Hierarchie umgekehrt wird, daß nicht etwa gesagt wird, in einer äußerlichen Weise, Realität gehe dem Erkennen voran, so wie der Idealismus sagt, die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis gehen der Realität voran, sondern daß ich versuche [darzutun] […], daß die Analyse der Erkenntnisvermögen selbst, der Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis darauf führt, daß die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis als ein von allem Faktischen Abgelöstes nicht die zulänglichen Bedingungen der Erkenntnis sind, sondern daß sie ihrem eigenen Sinn nach, nach dem befragt, was sie selber von sich aus sagen, immer ebenso zurückverweisen auf die Realität […], wie umgekehrt die Realität immer nur begriffen werden kann als eine vermittelte.«
Theodor W. Adorno, Erkenntnistheorie (1957/58), 348
»Mit anderen Worten, ich suche zu der Einführung der gesellschaftlichen Kategorien, und das ist der Unterschied von der Wissenssoziologie und dem Soziologismus, nicht zu gelangen, indem ich dabei kausale Beziehungen supponiere […], sondern ich suche in den Kategorien der Erkenntnistheorie selber durch deren Analyse, indem ich sie gewissermaßen unters Mikroskop nehme, eben jene Momente der gesellschaftlichen Realität als ihren eigenen Sinn zu entdecken, der im allgemeinen als ein bloß Abgeleitetes begriffen wird, und ich komme damit zu der Konsequenz, daß das Verhältnis von Bedingtem und Bedingendem reziprok ist […]. «
Theodor W. Adorno, Erkenntnistheorie (1957/58), 348
I. Realismus gegen Kritik:
Vernunftkritik im Kreuzfeuer
II. Vernunftkritik – entweder unkritisch
oder unvernünftig?
III. Unwahrheit in der Politik
»Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Verschwörungstheorien und einer popularisierten, will sagen lehrbaren Version von sozialer Kritik, die von einer allzu flüchtigen Lektüre etwa eines so herausragenden Soziologen wie Pierre Bourdieu inspiriert wäre […]?«
Bruno Latour, Elend der Kritik, 14
»Die Wirklichkeit ist nicht durch Tatsachen definiert. Tatsachen, matters of fact, machen nicht die ganze Erfahrung aus. Tatsachen sind nur eine sehr partielle und, wie ich meine, sehr polemische, sehr politische Wiedergabe der Dinge, die uns angehen, der matters of concern, und bloß eine Teilmenge dessen, was man auch den ›state of affairs‹, den Stand der Dinge nennen könnte.«
Bruno Latour, Elend der Kritik, 21
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Historische Aufgabe: Datieren
Konzeptuelle Aufgabe: Vorher/Nachher unterscheiden
Epistemologische Aufgabe: Zugang zur Wahrheit begründen
»Wenn die Postmodernisten damit zufrieden gewesen wären, literarische Texte oder meinetwegen die symbolische Dimension unseres kulturellen Verhaltens zu interpretieren, wäre das in Ordnung gewesen. Doch sie blieben nicht dabei. Als nächstes griffen sie die Naturwissenschaften an.«
Lee McIntyre, Post-Truth, 127
»Latours Reaktion ist nicht unähnlich der eines Waffenhändlers, der lernt, dass seine Waffen zum Töten von Unschuldigen benutzt werden.«
Lee McIntyre, Post-Truth, 142
I. Realismus gegen Kritik: Vernunftkritik im Kreuzfeuer
II. Vernunftkritik – entweder unkritisch oder unvernünftig?
III. Unwahrheit in der Politik
Darf Vernunft insgesamt kritisiert werden?
Nein: Reinigende Vernunftkritik
| Ja: Radikale Vernunftkritik
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»Relativismus ist ein Mittel, nirgendwo zu sein, während man beansprucht, überall in gleicher Weise zu sein. Die ›Gleichheit‹ der Positionierung leugnet Verantwortlichkeit und verhindert eine kritische Überprüfung. In den Objektivitätsideologien ist der Relativismus das perfekte Spiegelbild der Totalisierung: Beide leugnen die Relevanz von Verortung, Verkörperung und partialer Perspektive, beide verhindern eine gute Sicht. Relativismus und Totalisierung sind ›göttliche Tricks‹. Als Versprechen der Möglichkeit einer gleichen und vollständigen Sicht von überall und nirgends sind sie verbreitete Mythen einer die Wissenschaft begleitenden Rhetorik. Die Möglichkeit nachhaltiger rationaler, objektiver Forschung überlebt jedoch gerade in der Politik und Epistemologie einer partialen Perspektive.«
Donna Haraway, »Situiertes Wissen«, 84
»[U]nsere soziale Position formt und beschränkt, was wir wissen – implizites ebenso wie explizites Wissen und Erfahrungen –, was wir für Wissen halten und dessen spezifischen epistemischen Gehalt.« Alison Wylie, »Why Standpoint Matters«, 31
Bestimmte Phänomene sind von manchen sozialen Positionen aus besser erkennbar als von anderen – insbesondere können marginalisierte Positionen ein besseres Verständnis der sozialen Strukturen von Herrschaft und Ungerechtigkeit ermöglichen.
»Ein Standpunkt ist ein Ergebnis, keine Zuschreibung. […] Einen Standpunkt zu erreichen erfordert wissenschaftliche Arbeit um unter die ideologische Oberfläche sozialer Beziehungen zu sehen, die wir alle für natürlich halten. Und es erfordert politische Organisation, diese Arbeit zu leisten, weil die vermeintliche Natürlichkeit der Macht herrschenden Gruppen darauf beruht, die wirkliche Funktionsweise sozialer Beziehungen zu verschleiern.« Alison Wylie, »Standpoint Theories: Productively Controversial«, 195
I. Realismus gegen Kritik: Vernunftkritik im Kreuzfeuer
II. Vernunftkritik – entweder unkritisch oder unvernünftig?
III. Unwahrheit in der Politik
»Was ›da draußen‹ ist, ist normalerweise ein Durcheinander aus Wahrheiten, Halbwahrheiten, Fehleinschätzungen, gleichgültigen Erscheinungen und Illusionen, das beträchtlich bearbeitet werden muss, bevor man irgendetwas davon als ›wirklich‹ akzeptieren kann.«
Raymond Geuss, »A Note on Lying«, 140
»And I was explaining about the numbers. We did a thing yesterday at the speech. Did everybody like the speech? (Applause.) I’ve been given good reviews. But we had a massive field of people. You saw them. Packed. I get up this morning, I turn on one of the networks, and they show an empty field. I say, wait a minute, I made a speech. I looked out, the field was – it looked like a million, million and a half people.«
Donald Trump, Remarks by President Trump and Vice President Pence at CIA Headquarters, 21. Januar 2017
»[B]ereden Sie vier Mitglieder des Komitees, das fünfte zu ermorden […], und sogleich werden Sie durch das vergossene Blut alle wie mit einem Tau zusammenketten. Sogleich werden alle Ihre Sklaven sein, werden nicht wagen, sich zu empören oder Rechenschaft zu fordern. Ha-ha-ha!«
Fjodor M. Dostojewskij, Die Dämonen, 440
»Mach nicht so ein Drama daraus, Chuck. Du sagst, es ist eine Unwahrheit, und sie geben – unser Presssprecher, Sean Spicer, hat alternative Fakten dazu angeführt.«
Kellyanne Conway, Interview mit Chuck Todd, 22. Januar 2017
»Die Eliten waren dermaßen überzeugt, dass es keine gemeinsame Zukunft für alle geben könne, dass sie beschlossen, sich schleunigst von der gesamten Last der Solidarität zu befreien (daher die Deregulierung); dass eine Art goldene Festung für jene Happy Few errichtet werden müsse, die in der Lage wären, sich aus der Affäre zu ziehen (daher die Explosion der Ungleichheiten); und dass der bodenlose Egoismus einer solchen Flucht aus der gemeinsamen Welt nur vertuscht werden konnte, indem sie die Ursache dieser verzweifelten Flucht schlichtweg negierten (daher die Leugnung der Klimaveränderung).«
Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, 27 f.
Frieder Vogelmann
100 Jahre Soziologie an der Goethe-Universität
Frankfurt am Main
10. Dezember 2019