Frieder Vogelmann

Radikal emanzipatorisch.
Vernunftkritik als kritische Theorie

Banksy

100 Jahre Soziologie an der Goethe-Universität

Frankfurt am Main
10. Dezember 2019

Postfaktisch/Post-Truth

Post-Truth
Post-Truth

Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie

Theodor W. Adorno
Theodor W. Adorno

»Der springende Punkt […] ist also der, daß nicht etwa die Hierarchie umgekehrt wird, daß nicht etwa gesagt wird, in einer äußerlichen Weise, Realität gehe dem Erkennen voran, so wie der Idealismus sagt, die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis gehen der Realität voran, sondern daß ich versuche [darzutun] […], daß die Analyse der Erkenntnis­vermögen selbst, der Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis darauf führt, daß die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis als ein von allem Faktischen Abgelöstes nicht die zulänglichen Bedingungen der Erkenntnis sind, sondern daß sie ihrem eigenen Sinn nach, nach dem befragt, was sie selber von sich aus sagen, immer ebenso zurückverweisen auf die Realität […], wie umgekehrt die Realität immer nur begriffen werden kann als eine vermittelte

Theodor W. Adorno, Erkenntnistheorie (1957/58), 348

Weder Wissenssoziologie noch Idealismus

Theodor W. Adorno
Theodor W. Adorno


»Mit anderen Worten, ich suche zu der Einführung der gesellschaftlichen Kategorien, und das ist der Unterschied von der Wissenssoziologie und dem Soziologismus, nicht zu gelangen, indem ich dabei kausale Beziehungen supponiere […], sondern ich suche in den Kategorien der Erkenntnistheorie selber durch deren Analyse, indem ich sie gewissermaßen unters Mikroskop nehme, eben jene Momente der gesellschaftlichen Realität als ihren eigenen Sinn zu entdecken, der im allgemeinen als ein bloß Abgeleitetes begriffen wird, und ich komme damit zu der Konsequenz, daß das Verhältnis von Bedingtem und Bedingendem reziprok ist […]. «

Theodor W. Adorno, Erkenntnistheorie (1957/58), 348

Epistemologie & kritische Theorie – ein unvollendetes Projekt

Jürgen Habermas
Jürgen Habermas


Gliederung



I. Realismus gegen Kritik:
Vernunftkritik im Kreuzfeuer


II. Vernunftkritik – entweder unkritisch
oder unvernünftig?


III. Unwahrheit in der Politik


I.1 Kritik ist nichts anderes als Entlarven

Elend der Kritik
Elend der Kritik


»Was ist eigentlich der Unter­schied zwischen Ver­schwö­rungs­theorien und einer po­pu­la­ri­sier­ten, will sagen lehr­ba­ren Ver­sion von sozia­ler Kritik, die von einer all­zu flüch­ti­gen Lek­türe etwa eines so heraus­ra­gen­den Sozio­logen wie Pierre Bour­dieu inspi­riert wäre […]?«

Bruno Latour, Elend der Kritik, 14

I.2 Realismus redefiniert

Bruno Latour
Bruno Latour


»Die Wirklichkeit ist nicht durch Tatsachen definiert. Tatsachen, matters of fact, machen nicht die ganze Erfahrung aus. Tatsachen sind nur eine sehr partielle und, wie ich meine, sehr polemische, sehr politi­sche Wieder­gabe der Dinge, die uns angehen, der matters of concern, und bloß eine Teilmenge dessen, was man auch den ›state of affairs‹, den Stand der Dinge nennen könnte.«

Bruno Latour, Elend der Kritik, 21

I.3 Ein »postfaktisches« Zeitalter?

»Das Neue an der postfakti­schen Demokratie ist, dass man sich nicht mehr die Mühe geben muss, die Lüge zu verstecken oder den ›Wider­spruch‹ mit überprüfbaren Tat­sachen zu unter­füttern.«

Vincent F. Hendricks & Mads Vestergaard, Postfaktisch, 5

Postfaktisch/Populistisch
Postfaktisch/Populistisch

Drei Aufgaben muss diese Zeitdiagnose erfüllen:

  1. Historische Aufgabe: Datieren

  2. Konzeptuelle Aufgabe: Vorher/Nachher unterscheiden

  3. Epistemologische Aufgabe: Zugang zur Wahrheit begründen

I.4 Abteilung Attacke

Lee McIntyre
Lee McIntyre


»Wenn die Postmodernisten damit zufrieden gewesen wären, literarische Texte oder meinetwegen die symbolische Dimension unseres kulturellen Verhaltens zu interpretieren, wäre das in Ordnung gewesen. Doch sie blieben nicht dabei. Als nächstes griffen sie die Naturwissenschaften an.«

Lee McIntyre, Post-Truth, 127

»Latours Reaktion ist nicht unähnlich der eines Waffenhändlers, der lernt, dass seine Waffen zum Töten von Unschuldigen benutzt werden.«

Lee McIntyre, Post-Truth, 142


Gliederung



I. Realismus gegen Kritik: Vernunftkritik im Kreuzfeuer


II. Vernunftkritik – entweder unkritisch oder unvernünftig?


III. Unwahrheit in der Politik


II.1 Reinigende und radikale Vernunftkritik

Darf Vernunft insgesamt kritisiert werden?

Nein: Reinigende Vernunftkritik

Reinigende Vernunftkritik nimmt an, dass es einen idealen Kern von Vernunft gibt und dass sie Zugang zu diesem von Kritik ausgesparten Vernunftkern hat – weil sie ohne diese Annahme als tota­lisierte Vernunftkritik sich selbst den Boden unter den Füßen wegziehen würde.

Ja: Radikale Vernunftkritik

Radikale Vernunftkritik lehnt die Prämisse eines idealen Kerns von Vernunft ab. Vernunftkritik kann man ganz oder gar nicht üben – wer sich des Zugriffs auf nicht mehr der Kritik bedürftige Vernunft schon sicher ist, hat der Vernunftkritik bereits den Rücken gekehrt.

II.2 Kritik prozessualisieren

Leiter
Leiter

»Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.«

Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 6.54

Loch
Loch

»Ich bemühe mich um eine Diagnose der Gegenwart; ich versuche zu sagen, was wir heute sind und was das, was wir heute sagen, bedeutet. Diese Ausgra­bungs­arbeit unter unseren eigenen Füßen ist seit Nietzsche typisch für das zeit­genös­sische Denken […].«

Michel Foucault, »Wer sind Sie, Professor Foucault?«, 776

II.3 Epistemologie revolutionieren

Donna Haraway
Donna Haraway

»Relativismus ist ein Mittel, nirgendwo zu sein, während man beansprucht, überall in gleicher Weise zu sein. Die ›Gleichheit‹ der Positionierung leugnet Ver­ant­wort­lich­keit und verhindert eine kritische Über­prüfung. In den Objek­tivi­täts­ideo­logien ist der Relativis­mus das perfekte Spiegel­bild der Totali­sierung: Beide leugnen die Relevanz von Verortung, Ver­kör­perung und partialer Pers­pek­tive, beide verhindern eine gute Sicht. Relativismus und Totalisierung sind ›göttliche Tricks‹. Als Versprechen der Möglichkeit einer glei­chen und vollständigen Sicht von überall und nirgends sind sie verbreitete Mythen einer die Wissenschaft begleitenden Rhetorik. Die Möglichkeit nachhaltiger rationaler, objektiver Forschung überlebt jedoch gerade in der Politik und Epistemologie einer partialen Perspektive.«

Donna Haraway, »Situiertes Wissen«, 84

II.4 Vernunft pluralisieren

1. These (begrifflich): Wissen ist situiert

»[U]nsere soziale Position formt und beschränkt, was wir wissen – implizites ebenso wie explizites Wissen und Erfahrungen –, was wir für Wissen halten und dessen spezifischen epistemischen Gehalt.« Alison Wylie, »Why Standpoint Matters«, 31

2. These (empirisch): Epistemische Vor- und Nachteile sind ungleich verteilt

Bestimmte Phänomene sind von manchen sozialen Positionen aus besser erkennbar als von anderen – insbesondere können marginalisierte Positionen ein besseres Verständnis der sozialen Strukturen von Herrschaft und Ungerechtigkeit ermöglichen.

3. Erklärung: Soziale Positionen sind (noch) keine Standpunkte

»Ein Standpunkt ist ein Ergebnis, keine Zuschreibung. […] Einen Standpunkt zu errei­chen erfordert wissenschaftliche Arbeit um unter die ideologische Oberfläche sozialer Beziehungen zu sehen, die wir alle für natürlich halten. Und es erfordert politische Organisation, diese Arbeit zu leisten, weil die vermeintliche Natürlichkeit der Macht herrschenden Gruppen darauf beruht, die wirkliche Funktionsweise sozialer Beziehungen zu verschleiern.« Alison Wylie, »Standpoint Theories: Productively Controversial«, 195


Gliederung



I. Realismus gegen Kritik: Vernunftkritik im Kreuzfeuer

II. Vernunftkritik – entweder unkritisch oder unvernünftig?

III. Unwahrheit in der Politik

III.1 Offensichtliche Unwahrheiten sind harte Arbeit

Raymond Geuss
Raymond Geuss




»Was ›da draußen‹ ist, ist normalerweise ein Durcheinander aus Wahrheiten, Halb­wahr­heiten, Fehleinschätzungen, gleichgültigen Erscheinungen und Illusionen, das beträchtlich bearbeitet werden muss, bevor man irgendetwas davon als ›wirklich‹ akzeptieren kann.«

Raymond Geuss, »A Note on Lying«, 140

III.2 Macht durch Unwahrheiten demonstrieren

Donald Trump by bambi
Donald Trump by bambi


»And I was explaining about the numbers. We did a thing yesterday at the speech. Did everybody like the speech? (Applause.) I’ve been given good reviews. But we had a massive field of people. You saw them. Packed. I get up this morning, I turn on one of the networks, and they show an empty field. I say, wait a minute, I made a speech. I looked out, the field was – it looked like a million, million and a half people.«

Donald Trump, Remarks by President Trump and Vice President Pence at CIA Headquarters, 21. Januar 2017

III.3 Unwahrheiten und Komplizenschaft

James Comey
James Comey




»[B]ereden Sie vier Mitglieder des Komitees, das fünfte zu ermorden […], und sogleich werden Sie durch das vergossene Blut alle wie mit einem Tau zusammenketten. Sogleich werden alle Ihre Sklaven sein, werden nicht wagen, sich zu empören oder Rechenschaft zu fordern. Ha-ha-ha!«

Fjodor M. Dostojewskij, Die Dämonen, 440

III.4 Unwahrheiten als Lackmustest

Kellyanne Conway
Kellyanne Conway




»Mach nicht so ein Drama daraus, Chuck. Du sagst, es ist eine Unwahrheit, und sie geben – unser Presssprecher, Sean Spicer, hat alternative Fakten dazu angeführt.«

Kellyanne Conway, Interview mit Chuck Todd, 22. Januar 2017

III.5 Warum den Klimawandel leugnen?

Bruno Latour
Bruno Latour


»Die Eliten waren dermaßen überzeugt, dass es keine gemeinsame Zukunft für alle geben könne, dass sie beschlossen, sich schleunigst von der gesamten Last der Solidarität zu befreien (daher die Deregulierung); dass eine Art goldene Festung für jene Happy Few errichtet werden müsse, die in der Lage wären, sich aus der Affäre zu ziehen (daher die Explosion der Ungleichheiten); und dass der bodenlose Egoismus einer solchen Flucht aus der gemeinsamen Welt nur vertuscht werden konnte, indem sie die Ursache dieser verzweifelten Flucht schlichtweg negierten (daher die Leugnung der Klimaveränderung).«

Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, 27 f.

Frieder Vogelmann

Radikal Emanzipatorisch.
Vernunftkritik als kritische Theorie

Banksy

100 Jahre Soziologie an der Goethe-Universität

Frankfurt am Main
10. Dezember 2019