Frieder Vogelmann

Die Macht des Seienden,
das Sein der Macht und
die politische Signifikanz von Wahrheit

Drei Lesarten von Michel Foucaults Position zur Ontologie des Politischen

Michael Foucault


Ontologien des Politischen im Widerstreit

Berlin, 25.–27. September 2019

Eher Quine als Heidegger?

Quine
Quine


»To be is to be the value of a variable.«

W.V.O. Quine, On What
There Is
(1948), 15

Heidegger
Heidegger


»Ontologie ist die Wissenschaft vom Sein. Sein aber ist immer Sein eines Seienden. Sein ist wesensmäßig vom Seienden unterschieden.«

Martin Heidegger, Sein und
Zeit
(1928), 22


Gliederung



I. Die Macht des Seins

II. Das Sein der Macht

III. Eine emanzipierende Depotenzierung von Ontologie

I.1 Politisierung von Ontologie: Denezessitieren

»Die Ersetzung der Geschichte der Wis­sens­formen durch die his­tori­sche Analyse der Formen der Veri­diktion, die Ersetzung der Geschichte der Herr­schaft durch die his­torische Analyse der Ver­fahren der Gouverne­mentalität, die Ersetzung der Theorie des Subjekts oder die Geschichte der Sub­jek­tivi­tät durch die historische Analyse der Prag­matik des Selbst und der Formen, die diese an­genom­men hat, das sind die ver­schieden­en Zugangs­wege, auf denen ich ver­sucht habe, die Mög­lich­keit einer Geschichte dessen näher zu be­stim­men, was man ›Erfah­run­gen‹ nennen könnte.«

Michel Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen (2009), 18

Michel Foucault
Michel Foucault

I.2 Politisierung von Ontologie: Macht

  1. Relational

    »Macht« meint immer Machtbeziehungen, die nur in ihrer Ausübung existieren und insofern fragil sind.

  2. Produktiv

    Machtbeziehungen sind nicht auf repressive Machtbeziehungen zu reduzieren: sie stiften an, ermöglichen, erzeugen – und eines ihrer ersten Prddukte sind Subjekte.


  3. Strategisch

    Machbeziehungen können nicht von den ausübenden Subjekten her identifiziert werden, sondern müssen von ihrer Technologie und ihrer Strategie her individuiert werden.

I.3 Politisierung von Ontologie: Detailfragen

  1. Relational

    Wenn Macht die Relationen zwischen Subjekten meint, die selbst erst durch solche Beziehungen konstituiert werden, dann bedürfen wir eines Begriffs von Relationen, der keine bereits existierenden Relata voraussetzt.

  2. Produktiv

    Dass Machtbeziehungen Individuen erst produzieren, zählt schon deshalb zu Foucaults kontroversesten Behauptungen, weil sie die Allgegenwart der Macht bis dorthin ausdehnt, wo wir uns »authentisch« und »ganz bei uns selbst« fühlen – und weil sie handlungstheoretische Erläuterungen von Macht verhindert.

  3. Strategisch

    Wir brauchen eine Erklärung, wie Machtbeziehungen »gleichzeitig intentional und nicht-subjektiv« (Foucault, Der Wille zum Wissen [1976], 95) sein können.


Gliederung



I. Die Macht des Seins

II. Das Sein der Macht

III. Eine emanzipierende Depotenzierung von Ontologie

II.1 Spinozas Ontologie der Macht

»Individualität wird hier also nicht aus einer ur­sprüng­lichen Wesen­haftig­keit des Indi­vi­duums her­ge­lei­tet und diesem in Ab­leitung zuge­schrieben, sondern sie erfährt eine immer wieder neue Konsti­tution durch äußere Macht­wir­kun­gen. Das Macht­geschehen bil­det ein im­manen­tes Kon­sti­tu­tions­prin­zip, das allen Inter­aktionen zu­grun­de liegt und ein Feld von Poten­ziali­täten er­zeugt, in dem sich ver­schiedene Elemente auf unvorhersehbare und unter­schied­lichste Weise zu Ereig­nissen und Hand­lungen ver­knüpfen können.«

Kerstin Andermann, »Individuierungskräfte. Metaphysik der Macht in Foucaults politischer Theorie« (2018), 127

Baruch Spinoza
Baruch Spinoza

»Erst in ihrer ontologischen Wendung zeigt sich Macht als die konsti­tuie­rende und über­greifen­de Kraft, als die Foucault sie immer wieder dar­stellt, und um ihre rela­tionale und dyna­mische Ver­fasst­heit ab­zu­bil­den, erweist sich der Rück­gang auf den meta­physischen Hinter­grund des Macht­be­griffs eben als uner­läss­lich.«

Martin Saar, Die Immanenz der Macht (2013), 126

II.2 Subtile Differenzen

Andermann plädiert für eine »metaphysische« Interpretation, die die unausweichlichen onto­logischen Voraus­setzungen seines Macht­begriffs explizit anerkennt. Das nicht zu tun sei Reflexions­verweigerung:

»Seine Ablehnung der Theorie­förmig­keit und seine Be­to­nung der Praxisa­na­lyse von Macht verdecken die im­pli­zi­te Orien­tie­rung an onto­logi­schen Kon­zep­tionen von Macht als einem grund­le­gen­den Wirkungs­ver­hält­nis.«

Kerstin Andermann, »Individuierungskräfte. Metaphysik der Macht in Foucaults politischer Theorie« (2018), 117

Saar will dagegen die Begründungslast ermäßigen, die uns eine Ontologie des Politischen auferlegt, indem wir auf »schwache« (Stephen White) oder »historische« (Ian Hacking) Ontologien umsteigen. Eine Orien­tie­rung an Spinozas Modell sei auch möglich,

»ohne dass man selbst eine po­li­ti­sche On­to­lo­gie zu ent­wickeln hätte, auch wenn Spinozas eigene po­li­ti­sche On­to­lo­gie ein Modell an­bie­tet, wie man sie theo­ret­isch kon­sis­tent kon­zi­pie­ren kann.«

Martin Saar, Die Immanenz der Macht (2013), 193


Gliederung



I. Die Macht des Seins

II. Das Sein der Macht

III. Eine emanzipierende Depotenzierung von Ontologie

III.1 Ontologie als Fiktion

Michel Foucault
Michel Foucault

»Ich glaube, daß man in einer Geschichte der Ontologien des wahren Diskurses […] zumindest drei Fragen stellen müsste. Erstens, was ist die diesem oder jenem Diskurs unter allen anderen eigentümliche Seinsweise, sobald er in die Wirklichkeit ein bestimmtes Spiel der Wahrheit einführt? Zweite Frage: Was ist die Seinsweise, die dieser Diskurs der Wirklichkeit verleiht, über die er spricht, und zwar durch das Spiel der Wahrheit, das er vollzieht? Dritte Frage: Welchen Seinsmodus erlegt dieser Diskurs der Veridiktion dem Subjekt auf, das den Diskurs hält, und zwar so, daß dieses Subjekt dieses bestimmte Spiel der Wahrheit richtig spielen kann? […]

Daraus folgt, daß jeder Diskurs, […], jede Veridiktion wesentlich als Praxis zu verstehen ist. Zweitens, daß jede Wahrheit auf der Grundlage eines Spiels der Veridiktion verstanden werden soll. Und schließlich, daß jede Ontologie als Fiktion analysiert wird

Michel Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen (2009), 18

III.2 Ontologie und Epistemologie

Michel Foucault
Michel Foucault

Foucaults Politisierung der Ontologie hat eine selbstreflexive Dimension: Die epistemologische Erkenntnis des Postfundamentalismus, die den ersten Schritt der Politisierung von Ontologie bildet, richtet sich unausweichlich auch gegen Foucaults eigene, implizite Ontologie des Politischen.

Foucault hat diese epistemologische Depotenzierung noch der eigenen Veridiktionspraktiken nicht nur gesehen, sondern aktiv genutzt: Seine Genealogien gelten immer wieder den eigenen Begriffen und ihren Voraussetzungen – beispielsweise seinem militärischen, auf der »Kriegshypothese« fußendem Machtbegriff in In Verteidigung der Gesellschaft (1975/76) oder dem eigenen Wissensbegriff in Die Regierung der Lebenden (1979/80). Letzteres allerdings ohne Erfolg.

III.3 Befreiendes Lachen

Edgar Endress: Acts of Knowledge
Edgar Endress: Acts of Knowledge
Aus der chinesischen Enzyklopädie Himmlischer Wortschaft wohltätiger Erkenntnisse
  1. Tiere, die dem Kaiser gehören,
  2. einbalsamierte Tiere,
  3. gezähmte,
  4. Milchschweine,
  5. Sirenen,
  6. Fabeltiere,
  7. herrenlose Hunde,
  8. in diese Gruppierung gehörige,
  9. die sich wie Tolle gebärden,
  10. die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind,
  11. und so weiter,
  12. die den Wasserkrug zerbrochen haben,
  13. die von weitem wie Fliegen aussehen