Frieder Vogelmann
Contesting Truths
Münster
6. November 2021
People in this country have had enough of experts.
Michael Gove
Don’t be so overly dramatic about it, Chuck. […] You’re saying it’s a falsehood. And […] Sean Spicer, our press secretary, gave alternative facts to that.
Kellyanne Conway
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Folie 3/19
Post-truth […] is a form of ideological supremacy, whereby its practitioners are trying to compel someone to believe in something whether there is good evidence for it or not.
Lee McIntyre, Post-Truth (2018), 13
What is new is not the mendacity of politicians but the public’s response to it. Outrage gives way to indifference and, finally, to collusion
Matthew D’Ancona, Post-Truth (2017), 26
A democracy is in a post-factual state when politically opportune but factually misleading narratives form the basis for political debate, decision, and legislation.
Vincent F. Hendricks and Mads Vestergaard, Reality Lost (2018), 104
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As presented in current debate, the word ‘post-truth’ is irreducibly normative. It is an expression of concern by those who care about the concept of truth and feel that it is under attack.
Lee McIntyre, Post-Truth (2018), 6
Folie 5/19
Philosophers claim to be seekers of the truth, but the matter is not quite so straightforward. Another way to see philosophers is as the ultimate experts in a post- truth world. They see ‘truth’ for what it is: the name of a brand ever in need of a product which everyone is compelled to buy.
Steve Fuller, Post-Truth (2018), 25
Folie 6/19
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Historische Zweifel: Warum sollten wir den Verlust der Wahrheitsnorm auf 2016 datieren?
Konzeptuelle Zweifel: Wie lässt sich „postfaktisch“ von anderen Konzepten für Unwahrheiten in der Politik unterscheiden, z.B. Propaganda, Ideologien, Lügen, Bullshit, …
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what is “out there” is usually a farrago of truths, half truths, misperceptions, indifferent appearance, and illusion that needs to be seriously processed before one can accept any of it as “real.” […] That means that to see and recognise the truth requires the exercise of a certain kind of systematic violence on the inchoate and formless mass of undifferentiated appearance, wishful thinking, fantasy, and half truth in which we live most of our lives.
Raymond Geuss, “A Note on Lying” (2014), 140
Folie 8/19
Zunächst fällt auf, dass die gesamte Makrophysik ausgeschlossen wird. Atome oder Moleküle verbinden sich nicht nur zu lebenden Zellen, sondern auch zu vielen komplexen nicht-lebendigen Dingen. Die Wissenschaft muss also mindestens als ein Baum vorgestellt werden, zu dessen Ästen Gravitation, Elektromagnetismus, Kosmologie, Geologie und so weiter gehören, obgleich in der Tat unklar ist, wie auch nur diese Zweige in der Mikrophysik verwurzelt sein sollten.
John Dupré, The Disorder of Things (1993), 102
Folie 9/19
Die Suche nach dem Abgrenzungsproblem:
Folie 10/19
Die Suche nach dem Abgrenzungsproblem:
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Die Suche nach dem Abgrenzungsproblem:
Probleme mit dem Falsifizieren:
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Die Suche nach dem Abgrenzungsproblem:
Probleme mit dem Falsifizieren:
Abbruch der Suche in den 1980er Jahren; das Abgrenzungsproblem wird zum Pseudoproblem (Larry Laudan) erklärt, das seine Popularität politischen Gründen im Kalten Krieg verdankt (Michael Hagner).
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Das apologetische Verständnis von Wissenschaft als
hebt wissenschaftliche Praktiken auf einen souveränen epistemischen Standpunkt, um ihre epistemische Autorität zu garantieren.
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Das apologetische Verständnis von Wissenschaft als
hebt wissenschaftliche Praktiken auf einen souveränen epistemischen Standpunkt, um ihre epistemische Autorität zu garantieren.
Doch dieser Standpunkt ist eine Fiktion.
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Führt das nicht jenen Relativismus wieder ein, vor dem die Diagnostiker des „postfaktischen Zeitalters“ warnen? Wenn wissenschaftliche Praktiken soziale Praktiken sind, wenn Wahrheit und wissenschaftliches Wissen den politischen, ökonomischen etc. Konflikten nicht enthoben sind, werden dann nicht Wissenschaft und Politik ununterscheidbar, nämlich beides Spiele um „modale Macht“, wie Steve Fuller sagen würde, um die Macht, Wirklichkeit und Möglichkeit zu bestimmen?
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Führt das nicht jenen Relativismus wieder ein, vor dem die Diagnostiker des „postfaktischen Zeitalters“ warnen? Wenn wissenschaftliche Praktiken soziale Praktiken sind, wenn Wahrheit und wissenschaftliches Wissen den politischen, ökonomischen etc. Konflikten nicht enthoben sind, werden dann nicht Wissenschaft und Politik ununterscheidbar, nämlich beides Spiele um „modale Macht“, wie Steve Fuller sagen würde, um die Macht, Wirklichkeit und Möglichkeit zu bestimmen?
Darauf braucht es zwei Antworten:
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Führt das nicht jenen Relativismus wieder ein, vor dem die Diagnostiker des „postfaktischen Zeitalters“ warnen? Wenn wissenschaftliche Praktiken soziale Praktiken sind, wenn Wahrheit und wissenschaftliches Wissen den politischen, ökonomischen etc. Konflikten nicht enthoben sind, werden dann nicht Wissenschaft und Politik ununterscheidbar, nämlich beides Spiele um „modale Macht“, wie Steve Fuller sagen würde, um die Macht, Wirklichkeit und Möglichkeit zu bestimmen?
Darauf braucht es zwei Antworten:
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Ausgangspunkt ist die minimal materialistische Einsicht, dass Wahrheit „von dieser Welt“ ist: Sie ist eine Kraft in sozialen Praktiken, keine Macht von außerhalb.
Die Wahrheit zirkuliert in [der von wissenschaftlichen Praktiken aufgebauten Referenzkette; F.V.] wie die Elektrizität entlang eines Drahtes, und zwar solange, wie er nicht zerschnitten wird.
Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora (1999), 85
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Vier Merkmale:
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Muss ich, nachdem ich neue aufwühlende Fakten über meinen Ex-Ehemann erfahren habe, die »Wirklichkeit« unserer Ehe insgesamt anders bewerten? […] Ich war mehrere Jahre glücklich, wir entwickelten große emotionale Intimität und starke wechselseitige Unterstützung, und nachfolgende Offenbarungen über ihn können diese Geschichte niemals komplett verändern. Aber meiner Bewertung von ihm und von unserer Beziehung fehlten einige wichtige Elemente […]. Das liegt nicht einfach daran, dass er sich verändert hat oder ich mich, obwohl wir uns natürlich beide verändert haben. Es liegt daran, dass die Wahrheit meiner gelebten Wirklichkeit und selbst unserer geteilt erlebten Wirklichkeit sich verändert hat.
Linda Martín Alcoff, Real Knowledge (1996), 214 f.
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Emergiert Wahrheit als epistemische Kraft irreduzibel aus der sozialen Praktik oder ist die vermeintliche Wahrheit rückführbar auf andere Kräfte, Akteure oder sonstige Elemente in der sozialen Praktik?
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Emergiert Wahrheit als epistemische Kraft irreduzibel aus der sozialen Praktik oder ist die vermeintliche Wahrheit rückführbar auf andere Kräfte, Akteure oder sonstige Elemente in der sozialen Praktik?
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Emergiert Wahrheit als epistemische Kraft irreduzibel aus der sozialen Praktik oder ist die vermeintliche Wahrheit rückführbar auf andere Kräfte, Akteure oder sonstige Elemente in der sozialen Praktik?
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Emergiert Wahrheit als epistemische Kraft irreduzibel aus der sozialen Praktik oder ist die vermeintliche Wahrheit rückführbar auf andere Kräfte, Akteure oder sonstige Elemente in der sozialen Praktik?
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Das Beispiel zeigt nicht, dass die Praktiken von Klimawandelleugner_innen von politischen, ökonomischen und sonstigen Einflüssen »verunreinigt« sind.
Wissenschaftliche Praktiken sind nicht »reiner« – sie sind reichhaltiger, weil Wahrheit aus ihnen irreduzibel emergiert.
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Den „alternativen Fakten“ setzen die Diagnostikerinnen des „postfaktischen Zeitalters“ einen „alternativlosen Szientismus“ entgegen.
Dagegen sperrt sich politische Epistemologie als transformatives Unternehmen. Ihr Credo lautet:
Erkenntnistheorie ohne Sozial- und politische Theorie ist idealistisch, Sozial- und politische Theorie ohne Erkenntnistheorie dogmatisch.
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