Banksy, Regent’s Canal, London (2009)
Banksy, Regent’s Canal, London (2009)

Frieder Vogelmann

Weder verleugnen noch verherrlichen

Antrittsvorlesung
Frankfurt am Main
26. Mai 2021

Gliederung

I. Verleugnen/Ver­herr­lichen: Ein paar Bei­spiele

II. Verstehen: Drei Gründe für eine realis­tische Be­trach­tung wissen­schaft­licher Prak­tiken

III. Verändern: Ein nicht­souveräner Be­griff von Wahr­heit

IV. Verteidigen: Ein beschei­denes Ab­gren­zungs­kri­te­rium

Banksy, Regent’s Canal, London (2009)
Banksy, Regent’s Canal, London (2009)

I. Verleugnen/Ver­herr­lichen

Karsten Hilse, MdB (AfD)
Karsten Hilse, MdB (AfD)

Klimawandelleugner

Für die mit vielen Milliarden gepamperte Hypothese, dass mehr CO2 mehr Temperatur erzeugt, gibt es keinen einzigen Beweis, […] auch nicht in einem der bislang veröffentlichten IPCC-Berichte. Alles, was in den letzten 30 Jahren »bewiesen« wurde, kommt aus Computermodellen, doch die versagen schon bei der Berechnung der Klimavergangenheit dramatisch, und bei der schon eingetretenen Zukunft – es gibt sie ja nun schon seit 30 Jahren – ebenso.

Die AfD sagt hier und heute der Irrlehre vom menschengemachten Klimawandel den Kampf an. Wir wollen den Ausstieg aus allen diesbezüglichen nationalen und internationalen Verträgen und Gremien. […] Wir wollen den Stopp der Finanzierung von Pseudowissenschaft. […] Dabei wissen wir die wirkliche, ideologiefreie Wissenschaft in allen Bereichen auf unserer Seite.

Karsten Hilse im Deutschen Bundestag, 23. März 2018

I. Verleugnen/Ver­herr­lichen

March for Science

  • Einerseits gingen Wissenschaftler_innen gegen die politische Ein­fluss­nahme auf die Wissen­schaf­ten auf die Straße.
  • Andererseits propagierten sie eine Vorstellung von Wissen­schaf­ten, die nicht einmal Raum für die Geistes- und Sozial­wissen­schaften in ihrer ganzen Breite ließ.
March for Science, Frankfurt am Main,<br>22. April 2017
March for Science, Frankfurt am Main,
22. April 2017

I. Verleugnen/Ver­herr­lichen

Wahrheit reduzieren

Von Aristoteles’ Minimalanforderung

Zu sagen […], das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr.

Aristoteles, Metaphysik, IV. Buch, 1011b

I. Verleugnen/Ver­herr­lichen

Wahrheit reduzieren

Von Aristoteles’ Minimalanforderung

Zu sagen […], das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr.

Aristoteles, Metaphysik, IV. Buch, 1011b

zu einer Schlussfolgerung, in der Wahrheit als Korrespondenz mit einer unabhängigen Wirklichkeit vorausgesetzt wird:

Was neu im postfaktischen Zeitalter zu sein scheint, ist die Infragestellung nicht nur der Idee, Wissen über die Wirklich haben zu können, sondern der Existenz dieser Wirklichkeit selbst.

Lee McIntyre, Post-Truth (2018), 10

I. Verleugnen/Ver­herr­lichen

Wissenschaft isolieren

Es gibt keine liberale oder konservative Wissenschaft. Wenn wir eine empirische Frage stellen, sollte vor allem die vorliegende Evidenz zählen.

Lee McIntyre, Post-Truth (2018), 163

I. Verleugnen/Ver­herr­lichen

Wissenschaft isolieren

Es gibt keine liberale oder konservative Wissenschaft. Wenn wir eine empirische Frage stellen, sollte vor allem die vorliegende Evidenz zählen.

Lee McIntyre, Post-Truth (2018), 163

In ähnlicher Weise verteidigen Vincent F. Hendricks und Mads Vestergaard das »Ideal der Arbeitsteilung« zwischen Wissenschaft/Journalismus einerseits und Politik andererseits: Erstere erkennen Tatsachen, letztere treffen wertbasierte Entscheidungen.

Schreibt man nun das Ideal der Arbeitsteilung ganz ab, ergibt sich daraus ein postfaktischer Kampfplatz, auf dem alles fließt und die Wahrheit das erste Opfer ist.

Vincent F. Hendricks & Mads Vestergaard, Postfaktisch (2018), 164

II. Verstehen

Verleugner_innen versus<br>Verherrlicher_innen
Verleugner_innen versus
Verherrlicher_innen

Drei Einwände

Den Wissenschaftsverleugner_innen stehen also die Wissenschaftsverherrlicher_innen gegenüber. Doch ihr apologetisches Verständnis von Wissenschaft trifft auf drei schwerwiegende Einwände:

  1. Es homogenisiert Wissenschaft
  2. Es enthistorisiert Wissenschaft
  3. Es dekontextualisiert Wissenschaft

II. Verstehen

1. Gegen die Homogenisierung von Wissenschaft

Zunächst fällt auf, dass die gesamte Makrophysik ausgeschlossen wird. Atome oder Moleküle verbinden sich nicht nur zu lebenden Zellen, sondern auch zu vie­len komplexen nicht-lebendigen Dingen. Die Wissenschaft muss also min­des­tens als ein Baum vorgestellt werden, zu dessen Ästen Gravitation, Elektro­mag­netis­mus, Kosmologie, Geologie und so weiter gehören, obgleich in der Tat un­klar ist, wie auch nur diese Zweige in der Mikrophysik verwurzelt sein sollten.

John Dupré, The Disorder of Things (1993), 102

John Dupré
John Dupré

II. Verstehen

1. Gegen die Homogenisierung von Wissenschaft

Zunächst fällt auf, dass die gesamte Makrophysik ausgeschlossen wird. Atome oder Moleküle verbinden sich nicht nur zu lebenden Zellen, sondern auch zu vie­len komplexen nicht-lebendigen Dingen. Die Wissenschaft muss also min­des­tens als ein Baum vorgestellt werden, zu dessen Ästen Gravitation, Elektro­mag­netis­mus, Kosmologie, Geologie und so weiter gehören, obgleich in der Tat un­klar ist, wie auch nur diese Zweige in der Mikrophysik verwurzelt sein sollten.

John Dupré, The Disorder of Things (1993), 102

Ein Grund, aus dem es wichtig ist, mit dem Mythos der wissenschaftlichen Einheit aufzuräumen, besteht darin, dass man im Prinzip urteilen könnte, dass beispielsweise Makroökonomie oder die mathematische Populationsgenetik genauso glaubwürdig sind wie Chiromantie oder Kartenlesen, ohne dass man damit auf dieselbe Behauptung in Bezug auf Mechanik oder Immunologie festgelegt ist.

John Dupré, The Disorder of Things (1993), 11

John Dupré
John Dupré

II. Verstehen

Hans Reichenbach, Pierre Duhem, <br>Karl Popper und Thomas S. Kuhn
Hans Reichenbach, Pierre Duhem,
Karl Popper und Thomas S. Kuhn

2. Gegen die Enthistorisierung von Wissenschaften

Die Suche nach dem Abgrenzungsproblem:

  • Verifikation: Wissenschaft ist durch ihre empirisch-induktive Methode charakterisiert (logischer Positivismus)

II. Verstehen

Hans Reichenbach, Pierre Duhem, <br>Karl Popper und Thomas S. Kuhn
Hans Reichenbach, Pierre Duhem,
Karl Popper und Thomas S. Kuhn

2. Gegen die Enthistorisierung von Wissenschaften

Die Suche nach dem Abgrenzungsproblem:

  • Verifikation: Wissenschaft ist durch ihre empirisch-induktive Methode charakterisiert (logischer Positivismus)
  • Falsifikation: Wissenschaft ist durch ihre hypothetisch-deduktive Methode charakterisiert (Karl Popper)

II. Verstehen

Hans Reichenbach, Pierre Duhem, <br>Karl Popper und Thomas S. Kuhn
Hans Reichenbach, Pierre Duhem,
Karl Popper und Thomas S. Kuhn

2. Gegen die Enthistorisierung von Wissenschaften

Die Suche nach dem Abgrenzungsproblem:

  • Verifikation: Wissenschaft ist durch ihre empirisch-induktive Methode charakterisiert (logischer Positivismus)
  • Falsifikation: Wissenschaft ist durch ihre hypothetisch-deduktive Methode charakterisiert (Karl Popper)

Probleme mit dem Falsifizieren:

  • Begrifflich unzureichend aufgrund des Unterdeterminationsproblems (Pierre Duhem)
  • Empirisch inadäquat, da wissenschaftliche Praktiken ganz anders funktionieren (Thomas S. Kuhn)

II. Verstehen

Hans Reichenbach, Pierre Duhem, <br>Karl Popper und Thomas S. Kuhn
Hans Reichenbach, Pierre Duhem,
Karl Popper und Thomas S. Kuhn

2. Gegen die Enthistorisierung von Wissenschaften

Die Suche nach dem Abgrenzungsproblem:

  • Verifikation: Wissenschaft ist durch ihre empirisch-induktive Methode charakterisiert (logischer Positivismus)
  • Falsifikation: Wissenschaft ist durch ihre hypothetisch-deduktive Methode charakterisiert (Karl Popper)

Probleme mit dem Falsifizieren:

  • Begrifflich unzureichend aufgrund des Unterdeterminationsproblems (Pierre Duhem)
  • Empirisch inadäquat, da wissenschaftliche Praktiken ganz anders funktionieren (Thomas S. Kuhn)

Abbruch der Suche in den 1980er Jahren; das Abgrenzungsproblem wird zum Pseudoproblem (Larry Laudan) erklärt, das seine Popularität politischen Gründen im Kalten Krieg verdankt (Michael Hagner).

II. Verstehen

3. Gegen den souveränen epistemischen Standpunkt

Das apologetische Verständnis von Wissenschaft als

  • einheitlich,
  • neutral
  • und jenseits politischer, ökonomischer oder sozialer Einflüsse

hebt wissenschaftliche Praktiken auf einen souveränen epistemischen Standpunkt, um ihre epistemische Autorität zu garantieren.

Giovanni Battista Pittoni, <i>An Allegorical Monument to Sir Isaac Newton</i> (1727-1729)
Giovanni Battista Pittoni, An Allegorical Monument to Sir Isaac Newton (1727-1729)

II. Verstehen

3. Gegen den souveränen epistemischen Standpunkt

Das apologetische Verständnis von Wissenschaft als

  • einheitlich,
  • neutral
  • und jenseits politischer, ökonomischer oder sozialer Einflüsse

hebt wissenschaftliche Praktiken auf einen souveränen epistemischen Standpunkt, um ihre epistemische Autorität zu garantieren.

Doch dieser Standpunkt ist eine Fiktion.

Giovanni Battista Pittoni, <i>An Allegorical Monument to Sir Isaac Newton</i> (1727-1729)
Giovanni Battista Pittoni, An Allegorical Monument to Sir Isaac Newton (1727-1729)

II. Verstehen

Irène und Frédéric Joliot-Curie (ca. 1935)
Irène und Frédéric Joliot-Curie (ca. 1935)

3. Gegen den souveränen epistemischen Standpunkt – empirisch

  1. »Joliot behauptet, daß jedes Neutron drei bis vier Neutronen freisetzt, aber das ist unmöglich; außerdem hat er keinerlei Beweis; er ist viel zu optimistisch; typisch für Franzosen, sie verteilen das Fell des Bären, bevor er erlegt ist; außerdem ist es äußerst gefährlich, denn wenn die Deutschen das lesen, werden sie glauben, daß dies möglich ist, und ernsthaft daran arbeiten.«

Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora (1999), 112 f.

II. Verstehen

Irène und Frédéric Joliot-Curie (ca. 1935)
Irène und Frédéric Joliot-Curie (ca. 1935)

3. Gegen den souveränen epistemischen Standpunkt – empirisch

  1. »Joliot behauptet, daß jedes Neutron drei bis vier Neutronen freisetzt, aber das ist unmöglich; außerdem hat er keinerlei Beweis; er ist viel zu optimistisch; typisch für Franzosen, sie verteilen das Fell des Bären, bevor er erlegt ist; außerdem ist es äußerst gefährlich, denn wenn die Deutschen das lesen, werden sie glauben, daß dies möglich ist, und ernsthaft daran arbeiten.«
  2. »Die Gruppe um Joliot scheint bewiesen zu haben, daß jedes Neutron drei Neutronen freisetzt; das ist sehr interessant.«

Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora (1999), 112 f.

II. Verstehen

Irène und Frédéric Joliot-Curie (ca. 1935)
Irène und Frédéric Joliot-Curie (ca. 1935)

3. Gegen den souveränen epistemischen Standpunkt – empirisch

  1. »Joliot behauptet, daß jedes Neutron drei bis vier Neutronen freisetzt, aber das ist unmöglich; außerdem hat er keinerlei Beweis; er ist viel zu optimistisch; typisch für Franzosen, sie verteilen das Fell des Bären, bevor er erlegt ist; außerdem ist es äußerst gefährlich, denn wenn die Deutschen das lesen, werden sie glauben, daß dies möglich ist, und ernsthaft daran arbeiten.«
  2. »Die Gruppe um Joliot scheint bewiesen zu haben, daß jedes Neutron drei Neutronen freisetzt; das ist sehr interessant.«
  3. »Zahlreiche Experimente haben bewiesen, daß jedes Neutron zwischen zwei und drei Neutronen freisetzt.«

Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora (1999), 112 f.

II. Verstehen

Irène und Frédéric Joliot-Curie (ca. 1935)
Irène und Frédéric Joliot-Curie (ca. 1935)

3. Gegen den souveränen epistemischen Standpunkt – empirisch

  1. »Joliot behauptet, daß jedes Neutron drei bis vier Neutronen freisetzt, aber das ist unmöglich; außerdem hat er keinerlei Beweis; er ist viel zu optimistisch; typisch für Franzosen, sie verteilen das Fell des Bären, bevor er erlegt ist; außerdem ist es äußerst gefährlich, denn wenn die Deutschen das lesen, werden sie glauben, daß dies möglich ist, und ernsthaft daran arbeiten.«
  2. »Die Gruppe um Joliot scheint bewiesen zu haben, daß jedes Neutron drei Neutronen freisetzt; das ist sehr interessant.«
  3. »Zahlreiche Experimente haben bewiesen, daß jedes Neutron zwischen zwei und drei Neutronen freisetzt.«
  4. »Jedes Neutron setzt 2,5 Neutronen frei.«

Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora (1999), 112 f.

II. Verstehen

Irène und Frédéric Joliot-Curie (ca. 1935)
Irène und Frédéric Joliot-Curie (ca. 1935)

3. Gegen den souveränen epistemischen Standpunkt – empirisch

Wissenschaftliche Arbeit muss fünf Aufgaben meistern:

  1. Die Welt mobilisieren: Materialien und Instrumente versammeln und anordnen.
  2. Kontroverse generieren: Kolleg_innen und Institutionen in eine autonome Debatte einbinden.
  3. Allianzen schmieden: Interessen für die Forschung gewinnen.
  4. Öffentlichkeit gewinnen: weil neue Entdeckungen in die Alltagswelt eingreifen.
  5. Bindeglieder und Knoten: die begrifflichen und theoretischen Mittel, die diese fünf Aufgaben zusammenhalten.

Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora (1999), 119–131

II. Verstehen

Irène und Frédéric Joliot-Curie (ca. 1935)
Irène und Frédéric Joliot-Curie (ca. 1935)

3. Gegen den souveränen epistemischen Standpunkt – empirisch

Wissenschaftliche Praktiken sind prekäre Konfigurationen sehr unterschiedlicher Elemente, die so angeordnet und zusammengehalten werden, dass daraus eine Wahrheit hervorgeht. Sie reihen Übersetzungsvorgängen aneinander, damit die durchgeführten Berechnungen tatsächlich Berechnungen eines Elements der Wirklichkeit sind.

Die Wahrheit zirkuliert in ihr [dieser Referenzkette; F.V.] wie die Elektrizität entlang eines Drahtes, und zwar solange, wie er nicht zerschnitten wird.

Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora (1999), 85

II. Verstehen

3. Gegen den souveränen epistemischen Standpunkt – begrifflich

Der souveräne epistemische Standpunkt ist eine doppelt falsche Fiktion:

  • Sie gaukelt vor, Wissen könnte objektiv im Sinne von aperspektiv oder nichtsituiert sein – der berühmte »Gotttrick« (Haraway) eines »Blicks von nirgendwo«.
  • Sie schiebt uns eine reifizierte Vorstellung von Wissen unter – als sei Wissen ein festes Ding, das wir individuell besitzen könnten.
Nancy Hartsock, Sandra Harding, Helen Longino<br>Patricia Hill Collins, Donna Haraway, Alison Wylie
Nancy Hartsock, Sandra Harding, Helen Longino
Patricia Hill Collins, Donna Haraway, Alison Wylie

II. Verstehen

3. Gegen den souveränen epistemischen Standpunkt – begrifflich

Was wissenschaftliches Wissen genannt wird, wird also von einer Gemeinschaft produziert (in letzter Instanz der Gemeinschaft aller wissenschaftlich Tätigen) und überschreitet die Beiträge jedes einzelnen Individuums oder sogar aller Gruppen innerhalb der größeren Gemeinschaft. Sobald Propositionen, Thesen und Hypothesen formuliert worden sind, entscheidet sich in der kollektiven Arbeit durch Entgegensetzung und Vermischung verschiedener Standpunkte, was wissenschaftliches Wissen wird.

Helen Longino, Science as Social Knowledge (1990), 96

Nancy Hartsock, Sandra Harding, Helen Longino<br>Patricia Hill Collins, Donna Haraway, Alison Wylie
Nancy Hartsock, Sandra Harding, Helen Longino
Patricia Hill Collins, Donna Haraway, Alison Wylie

III. Verändern

Rene Magritte: <i>Golconde</i> (1953)
Rene Magritte: Golconde (1953)

Der Relativismusvorwurf

Obwohl die drei vorgestellten Einwände gegen das Verherr­lichen von Wissenschaften gute Gründe dafür liefern, die Pluralität, Historizität und Kontextualität wissen­schaft­licher Prak­tiken ernst zu nehmen, trifft ein solches realis­tisches Verständ­nis immer wieder auf den Relativismus­vorwurf: Ohne souveränen episte­mischen Stand­punkt besäßen wissen­schaft­liche Praktiken und das von ihnen hervor­ge­brachte Wissen keine epistemische Autorität mehr.

Der Relativismusvorwurf verbindet zwei Elemente, auf die man getrennt antworten muss:

  1. Eine falsche Dichotomisierung – sie gilt es zurückzuweisen.
  2. Eine berechtigte Sorge – auf sie gilt es, konstruktiv einzugehen.

III. Verändern

Rene Magritte: <i>Golconde</i> (1953)
Rene Magritte: Golconde (1953)

Relativismus als Kehrseite des Idealismus

Der Begriff des Relativismus selbst ist eigentlich nichts anderes als eine abstrakte Negation oder eine Überspannung des abstrakten Absolutismus. Wenn die Erkenntnis von uns endlichen, armen und fehlbaren Wesen nicht gleich so sein soll, wie sie selbst die Scholastiker und Kirchenväter immer sich vorgestellt haben, nämlich als eine noch für den lieben Gott verbindliche Erkenntnis […], dann soll, so wird gefolgert, die Erkenntnis gleich gar nichts sein […].

Theodor W. Adorno, Erkenntnistheorie (1957/58), 360

III. Verändern

Wahrheit als epistemische Kraft

Um auf die berechtigte Sorge einzugehen, müssen wir das realistische Verständnis wissenschaftlicher Praktiken auf die Basis einer materialistischen Erkenntnistheorie stellen. Nach dem bisher Gesagten muss sie einerseits die drei Bedingungen des Materialismus erfüllen:

  1. Pluralität
  2. Historizität
  3. Kontextualität

ohne andererseits relativistisch zu sein:

  1. Nicht-Indifferenz/Agonalalität
Nikola Tesla in seinem Labor (1899)
Nikola Tesla in seinem Labor (1899)

III. Verändern

Wahrheit als epistemische Kraft

Vier Merkmale:

  1. Ursprung: Wahrheit emergiert aus sozialen Praktiken, ohne auf deren Elemente reduzierbar zu sein.
  2. Stärke: Wahrheit ist vergleichsweise schwach, sie wird leicht durch andere Kräfte – soziale Macht, Kausalkräfte – verdrängt oder überlagert.
  3. Ziele: Wahrheit wirkt exklusiv auf Subjektivitäten ein, …
  4. Effekte: … in denen sie eine Art Sperrklinkeneffekt bewirkt: Es wird ihnen nahezu unmöglich, zu dem Zustand vor der Emergenz der Wahrheit zurückzukehren.
Nikola Tesla in seinem Labor (1899)
Nikola Tesla in seinem Labor (1899)

III. Verändern

Wahrheit als epistemische Kraft

Muss ich, nachdem ich neue aufwühlende Fakten über meinen Ex-Ehemann erfahren habe, die »Wirklichkeit« unserer Ehe insgesamt anders bewerten? […] Ich war mehrere Jahre glücklich, wir entwickelten große emotionale Intimität und starke wechselseitige Unterstützung, und nachfolgende Offenbarungen über ihn können diese Geschichte niemals komplett verändern. Aber meiner Bewertung von ihm und von unserer Beziehung fehlten einige wichtige Elemente […]. Das liegt nicht einfach daran, dass er sich verändert hat oder ich mich, obwohl wir uns natürlich beide verändert haben. Es liegt daran, dass die Wahrheit meiner gelebten Wirklichkeit und selbst unserer geteilt erlebten Wirklichkeit sich verändert hat.

Linda Martín Alcoff, Real Knowledge (1996), 214 f.

Nikola Tesla in seinem Labor (1899)
Nikola Tesla in seinem Labor (1899)

III. Verteidigen

Klimawissenschaften in Aktion
Klimawissenschaften in Aktion

Ein bescheidenes Abgrenzungskriterium

Emergiert Wahrheit als epistemische Kraft irreduzibel aus der sozialen Praktik oder ist die vermeintliche Wahrheit rückführbar auf andere Kräfte, Akteure oder sonstige Elemente in der sozialen Praktik?

  1. Lokal
  2. Anfechtbar
  3. Notwendig (aber nicht hinreichend)

III. Verteidigen

Klimawissenschaften in Aktion
Klimawissenschaften in Aktion

Ein bescheidenes Abgrenzungskriterium

Emergiert Wahrheit als epistemische Kraft irreduzibel aus der sozialen Praktik oder ist die vermeintliche Wahrheit rückführbar auf andere Kräfte, Akteure oder sonstige Elemente in der sozialen Praktik?

  1. Lokal
    Emergenz festzustellen zwingt uns dazu, die sozialen Praktiken zu untersuchen; es reicht nicht, die Form von Theorien oder Hypothesen zu betrachten.
  2. Anfechtbar
  3. Notwendig (aber nicht hinreichend)

III. Verteidigen

Klimawissenschaften in Aktion
Klimawissenschaften in Aktion

Ein bescheidenes Abgrenzungskriterium

Emergiert Wahrheit als epistemische Kraft irreduzibel aus der sozialen Praktik oder ist die vermeintliche Wahrheit rückführbar auf andere Kräfte, Akteure oder sonstige Elemente in der sozialen Praktik?

  1. Lokal
    Emergenz festzustellen zwingt uns dazu, die sozialen Praktiken zu untersuchen; es reicht nicht, die Form von Theorien oder Hypothesen zu betrachten.
  2. Anfechtbar
    Irreduzibilität lässt sich nur behaupten, indem man die Abwesenheit von Mechanismen zeigt, mit denen andere Kräfte als Wahrheiten ausgegegeben werden.
  3. Notwendig (aber nicht hinreichend)

III. Verteidigen

Klimawissenschaften in Aktion
Klimawissenschaften in Aktion

Ein bescheidenes Abgrenzungskriterium

Emergiert Wahrheit als epistemische Kraft irreduzibel aus der sozialen Praktik oder ist die vermeintliche Wahrheit rückführbar auf andere Kräfte, Akteure oder sonstige Elemente in der sozialen Praktik?

  1. Lokal
    Emergenz festzustellen zwingt uns dazu, die sozialen Praktiken zu untersuchen; es reicht nicht, die Form von Theorien oder Hypothesen zu betrachten.
  2. Anfechtbar
    Irreduzibilität lässt sich nur behaupten, indem man die Abwesenheit von Mechanismen zeigt, mit denen andere Kräfte als Wahrheiten ausgegegeben werden.
  3. Notwendig (aber nicht hinreichend)
    Das bescheidene Abgrenzungskriterium liefert keine Erklärung einer »Natur der Wissenschaften«, denn um zwischen verschiedenen Wahrheitspraktiken – wie juridischen und wissenschaftlichen – zu differenzieren, wären weitere Bedingungen notwendig.

III. Verteidigen

Meerwasser­temperaturen

  • Die globale Durchschnitts­tem­pe­ra­tur zeigte lange Zeit eine Ano­malie: einen starken Rück­gang der Temper­atu­ren von 1940 bis 1970, bes. im August 1945 (-0,3°C)
  • Ursache war der Wechsel der Eimer, die zur Tempe­ratur­­mes­sung des Meer­­was­sers genutzt wurden
  • Klimawandelleugner_innen schlos­sen daraus auf die Hal­bie­­rung der Erd­er­wär­mung bzw. die Wider­legung aller IPCC-Berichte
Eimer für Messungen
Eimer für Messungen

III. Verteidigen

Banksy: Marble Arch, London (2019)
Banksy: Marble Arch, London (2019)

Reichhaltiger, nicht reiner

Das Beispiel zeigt nicht, dass die Praktiken von Klima­wandel­leugner_innen von politischen, ökonomischen und sonstigen Einflüssen »verunreinigt« sind.

Wissenschaftliche Praktiken sind nicht »reiner« – sie sind reichhaltiger, weil Wahrheit aus ihnen irreduzibel emergiert.