Kritik, vor allem Vernunftkritik, trifft derzeit auf zwei Gegner: Während die Befürworter eines »postkritische« Denkens Kritik als selbstgerechte Wiederholung von Entlarvungsakten zurückweisen, sehen die Diagnostiker eines »postfaktischen Ära« in ihr einen Wegbereiter »postfaktischer« Politik. Beide Gegner führen Realismus als eine von der Kritik zu respektierende Grenze an. Dagegen wird in dem Kapitel die These verteidigt, dass radikale Vernunftkritik notwendig ist, weil sie präzisere Analysen der zunehmenden Unwahrheiten in der Politik liefern, über die beide Gegner von Vernunftkritik zu Recht besorgt sind. Möglich ist radikale Vernunftkritik, wenn wir Kritik von ihren Praktiken her denken, auf einen souveränen epistemischen Standpunkt verzichten und Vernunft pluralisieren, ohne sie zu trivialisieren. Die Vorzüge einer solchen radikalen Vernunftkritik zeigen Analysen der politischen und epistemischen Funktion einiger beispielhafter politischer Unwahrheiten.
Dieser Aufsatz ist eine umfangreich überarbeitete und erweiterte Übersetzung von “Should Critique be Tamed by Realism? A Defense of Radical Critiques of Reason”