Die Genealogie von Normativität
In diesem Projekt unternehme ich eine kritisch-historische Begriffsanalyse eines Kernbegriffs der praktischen Philosophie: »Normativität«. Trotz seiner Bedeutung für die Philosophie gibt es kaum Forschung zu seiner Geschichte und Entstehung. Folgen wir Peter Railtons Erklärung, soll »Normativität« die Unterscheidung markieren
nicht zwischen dem Guten und dem Schlechten (oder dem Richtigen und dem Falschen, dem Korrekten und dem Inkorrekten), sondern zwischen dem Guten-oder-Schlechten (oder dem Richtigen-oder-Falschen,…) auf der einen und dem Wirklichen, Möglichen oder Gewöhnlichem auf der anderen Seite.1
Diese Unterscheidung hat eine bemerkenswert kurze Geschichte, die in den besonderen Umständen nach der Krise des Deutschen Idealismus begann. In einem polemischen Artikel weist der Philosophiehistoriker Frederick Beiser darauf hin, dass die scharfe Abgrenzung von Normativität und Faktizität eine Erfindung der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus war. Beiser verdeutlicht das an Wilhelm Windelband (1848–1915), Heinrich Rickert (1863–1936) und Emil Lask (1875–1915), deren Versuche, den Deutschen Idealismus mithilfe des Konzepts der Normativität zu interpretieren, er für ein mahnendes Beispiel ähnlich gelagerter Unternehmungen heute hält:
Die vielen Vorkämpfer für eine normative Interpretation des Deutschen Idealismus – Henry Allison, Robert Brandom, Robert Pippin, Terry Pinkard, Charles Larmore, um nur einige zu nennen – scheinen nicht zu realisieren, dass diese Interpretation sehr alt ist und dass sie bereits mit größerer Raffinesse und Scharfsinnigkeit ausgearbeitet wurde. Noch beunruhigender ist jedoch, dass die früheren Arbeiter im Weinberg der Normativität auf gravierende Probleme mit dieser Interpretation stießen – derart schwerwiegende Probleme, dass sie sie guten Gewissens verwarfen.2
Beiser aber entwickelt die Geschichte von »Normativität« nicht weiter, verschweigt den Urheber der Unterscheidung und vernachlässigt die Konflikte, in denen Windelband, Rickert und Lask diese Unterscheidung zum Einsatz bringen. Der »Vater« von »Normativität« ist Hermann Lotze (1816–1881).3 Er argumentierte zuerst für »Geltung« als eine eigene Dimension von Realität und popularisierte diese Vorstellung, die von den Verteidigern einer normativen Deutung des Deutschen Idealismus aufgegriffen wurde.4
Die von Beiser vernachlässigten Konflikte, in denen der Begriff »Normativität« so brauchbar war, dass Windelband, Rickert und Lask über die damit verbundenen Probleme hinwegsahen, sind drei: Für Lotze war es insbesondere der Versuch, der Philosophie ein eigenständiges Forschungsgebiet gegen die vordringenden empirischen Wissenschaften zu sichern. Für Windelband, Rickert und Lask stand die Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie im Vordergrund, gegen die sie mit dem Begriff der Normativität zu Felde zogen. Und wenn wir diese Genealogie weiter verlängern, können wir den Bogen noch zu Frege und seinen Argumenten gegen den Psychologismus spannen. Jeweils ist das Hauptargument die unzulässige Vermischung von normativen und empirischen Tatsachen, verbunden mit einem anti-naturalistischen Argument, wonach Normativität irreduzibel ist.
Das erste, philosophiehistorische Ziel meines Projektes, die Genealogie von »Normativität« zu schreiben, besteht darin, die Rolle und Bedeutung der Unterscheidung von Normativität und Faktizität in den drei erwähnten Konflikten darzustellen. Ein zweites, systematisches Ziel ist es, mithilfe dieser Genealogie darzulegen, dass wir gegenwärtig die Wiederkehr dieser Auseinandersetzungen in der Sozialphilosophie und der politischen Philosophie erleben, insbesondere im Konflikt normativer politischer Philosophie und den französischen politischen Philosophien, die ein starkes Interesse am Vitalismus (in der Tradition von Canguilhem und Deleuze) entwickelt haben und sich zumeist des Vokabulars rund um den Begriff »Kraft« bedienen. Allerdings, so möchte ich auch zeigen, ist diese Wiederkehr keine einfache Wiederholung; insbesondere die Position, der Status und die Verfasstheit von Subjektivität unterscheiden sich: Während die Neukantianer des 19. Jahrhunderts das Subjekt der objektiven Geltung unterordneten, wird Normativität heute als von den autonomen Subjekten instituiert verstanden.5 Und während die Lebensphilosophen des 19. Jahrhunderts diesen Anti-Subjektivismus der Geltungstheoretiker bekämpften und dagegen das »Erlebnissubjekt« (Dilthey) mobilisierten, wird von den heute an das Vokabular der Kraft anknüpfenden Philosoph_innen das Subjekt als etwas Abgeleitetes, als konstituiert von »dunklen Kräften« verstanden.6
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Peter Railton, »Normative Force and Normative Freedom. Hume and Kant, but not Hume versus Kant«, in Jonathan Dancy (Hg.), Normativity, Oxford/Malden, MA 2000, 1, Übersetzung F.V. ↩︎
Frederick C. Beiser, »Normativity in Neo-Kantianism. Its Rise and Fall«, in International Journal of Philosophical Studies 17.1 (2009), 10, Übersetzung hier und im Folgenden von F.V. ↩︎
Obwohl Beiser Lotzes Bedeutung für das 19. Jahrhundert anerkennt, diskutiert er ihn auch in seinen Büchern kaum: vgl. Frederick C. Beiser, After Hegel. German philosophy, 1840–1900, Princeton, NJ 2014; Frederick C. Beiser, The Genesis of Neo-Kantianism, 1796–1880, Oxford 2014. ↩︎
Vgl. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a. M. 1983, Kapitel 6. ↩︎
Vgl. z.B. Robert B. Brandom, Expressive Vernunft, Frankfurt a. M. 2000 [1994], Kapitel 9.3. ↩︎
Vgl. z.B. Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008, 105. ↩︎