Alternative Gouvernementalitäten
Dieses Forschungsvorhaben kombiniert die Kritik der Governmentality Studies an den neoliberalen Regierungspraktiken der Gegenwart mit einer kritischen Lektüre der Geschichte des politischen Denkens (insbesondere des politischen Liberalismus) so, um konstruktiv die Möglichkeiten alternativer Regierungsrationalitäten zu untersuchen. Das Projekt greift damit eine Herausforderung Michel Foucaults auf, die überraschend konventionell daherkommt: Angesichts seiner Eindrücke von Gefängnissen und Arbeitslagern in der UdSSR 1976 sei politische Fantasie erforderlich, um neue, alternative Regierungspraktiken zu erfinden, die weder liberal noch totalitär-bürokratisch seien; Regierungspraktiken also, die den Regierten berechtigterweise keine Angst einflößten. Die Aufgabe sei, »[e]ine Ausübung der Macht zu erfinden, die keine Furcht bereitet«, so Foucault. »Das wäre es, das Neue.«1
Konventionell ist diese Aufgabenstellung, weil sie nur jene Frage wiederholt, die der politische Liberalismus seit einigen Jahrhunderten wieder und wieder beantwortet hat. Dennoch lässt sich diese Frage einerseits als Kriterium nutzen, um zu zeigen, dass der politische Liberalismus gerade an der Lösung dieser Aufgabe scheitert. Andererseits kann sie als Kriterium fungieren, um die real existierende Experimente mit Alternativen kritisch zu hinterfragen und so Schritt für Schritt Elemente einer neuen Regierungsrationalität zusammenzutragen.
Die erste Aufgabe des vorgeschlagenen Projekts ist es also, die Geschichte des politischen Liberalismus neu zu lesen, und zwar aus der Perspektive der Frage, wie so regiert werden kann, dass die Regierten keine Angst haben müssen. Die zweiteilige Antwort des politischen Liberalismus darauf ist im Begriff der Autonomie enthalten. Die Regierten müssen deswegen keine Angst vor dem Regiert-Werden empfinden, weil liberale Regierungspraktiken erstens auf Selbstregierung (auto) und zweitens auf die Herrschaft des Rechts (nomos), folglich nicht von Personen, gegründet sind. Selbstregierung und die »rule of law, not of men« sollen also eine Form der Machtausübung sicherstellen, die diejenigen nicht fürchten müssen, die dieser Machtausübung unterworfen sind, weil sie weder willkürlich (sondern gesetzesförmig) noch fremdbestimmt (sondern selbstbestimmt) ist.
Natürlich hat sich die Kritik des politischen Liberalismus schnell an beiden Teilen der Antwort entzündet und aufgezeigt, inwiefern er seine Versprechen nicht einlösen kann. Hinsichtlich der »rule of law« hat die Rechtskritik eindrücklich vorgeführt, dass das Recht nicht nur auf die Angst vor Sanktionen setzen muss (was der politische Liberalismus nicht leugnet), sondern auch neue Formen der Angst vor der Gewalt im Recht erzeugt.2 Daneben ist auch der zweite Teil der liberalen Antwort unter Druck geraten, also die auf Rousseau zurückgehende Idee, dass frei bleibt, wer nur sich selbst gehorchen muss, deren ambitionierteste Fassung sicherlich von Jürgen Habermas stammt.3 Begrifflich problematisch ist daran vor allem das Paradox der Bindungskraft selbstgegebener Gesetze: Entweder ist das Gesetz wirklich selbstgegeben und daher nicht bindend, da ich mir jederzeit ein anderes Gesetz geben kann, oder das Gesetz ist bindend, gerade weil ich nicht diese Möglichkeit habe – es also nicht selbstgegeben ist.4 Empirisch problematisch ist die Idee der Freiheitssicherung durch Selbstregierung angesichts der Frage, ob die hochgradig vermittelte Form von Selbstregierung in modernen demokratischen Gesellschaften tatsächlich noch hinreicht, um sich als Mit-Autor oder Mit-Autorin der Gesetze und insofern frei durch Selbstregierung zu erleben.
Wenn wir daher einerseits gute Gründe haben, die Antwort des politischen Liberalismus auf die Frage, wie so regiert werden kann, dass die Regierten keine Angst vor dem Regiert-Werden haben müssen, für nicht überzeugend zu halten, lässt sich andererseits kaum behaupten, dass die Kritiker oder Kritikerinnen des politischen Liberalismus – ob nun von marxistischer oder anarchistischer Seite – ihrerseits überzeugende Alternativen vorgetragen hätten. Allerdings fällt ihre Bilanz weitaus weniger ungünstig aus, als vielfach behauptet, wenn wir die ungenügende Antwort des Liberalismus einrechnen, statt unkritisch davon auszugehen, dass seine Antwort begrifflich richtig und nur noch nicht empirisch ausreichend verwirklicht ist. Während also die erste Aufgabe des anvisierten Forschungsprojekts, d.h. die Relektüre des politischen Liberalismus, Raum für eine Neubewertung von Regierungspraktiken schafft, besteht die zweite Aufgabe darin, Elemente einer solchen alternativen Regierungsweise zusammenzutragen. Dafür werde ich zunächst, analog zum Vorgehen in Erik Olin Wrights Envisioning Real Utopias,5 realexistierende politische Experimente mit dem Kriterium untersuchen, inwieweit dort angstfrei regiert wird und welche Bestandteile der jeweiligen politischen Praktiken sich verallgemeinern lassen. Diese Elemente möchte ich dann konzeptuell für einen Vorschlag nutzen, der Foucaults Herausforderung beantworten kann. Das Projekt würde so die mit Foucault entwickelte Kritik der neoliberalen Regierungspraktiken nicht bloß wiederholen, worauf sich die Governmentality Studies derzeit beschränken, sondern Foucaults Vorhaben aufgreifen, eine alternative Gouvernementalität zu entwickeln.
Michel Foucault, »Michel Foucault: Verbrechen und Strafen in der UdSSR und anderswo… (Nr. 172)«, in Dits et Écrits III, Frankfurt a. M. 2003 DE III/172, 98. ↩︎
Vgl. nur die Rechtskritiken aus den letzten Jahren z.B. von Christoph Menke, Recht und Gewalt, Berlin 2011; Daniel Loick, Kritik der Souveränität, Frankfurt a. M./New York 2012; Andreas Fischer-Lescano, Rechtskraft, Berlin 2013; Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015; Daniel Loick, Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts, Berlin 2017. ↩︎
Jean-Jacques Rousseau, »Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts«, in, Politische Schriften Band 1, Paderborn 1977 [1762]; Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 2006 [1992]. ↩︎
Vgl. zuletzt die eindrucksvolle Entfaltung dieser Kritik von Thomas Khurana, Das Leben der Freiheit. Form und Wirklichkeit der Autonomie, Berlin 2017. ↩︎
Erik Olin Wright, Envisioning Real Utopias, London 2010. ↩︎