In den hitzigen Auseinandersetzungen um Wissenschaftsfreiheit in Deutschland nehmen sich die Diskutierenden selten die Zeit, ihren Begriff von Wissenschaftsfreiheit zu bestimmen. Auf Nachfrage berufen sie sich häufig auf den Rechtsbegriff aus §5 des Grundgesetzes. Die implizite Annahme eines rechtlichen Verständnisses von Wissenschaftsfreiheit ist besonders verbreitet, wo die sogenannten Fälle von »Cancel Culture« oder »politischer Korrektheit« diskutiert werden. Doch die meisten dieser Fälle verletzen Wissenschaftsfreiheit gerade dann nicht, wenn wir sie im rechtlichen Sinne verstehen. Die Kritiker*innen der »Cancel Culture« müssen also einen weiteren Begriff von Wissenschaftsfreiheit voraussetzen.
Wie sehen die Anforderungen an einen solchen weiten Begriff von Wissenschaftsfreiheit aus? Zwei minimale Bedingungen sind besonders wichtig: Erstens muss jedem Begriff von Wissenschaftsfreiheit eine realistische Auffassung der wissenschaftlichen Praktiken zugrunde liegen, die er schützen soll. Zweitens muss jeder Begriff von Wissenschaftsfreiheit sich auf eine Freiheitskonzeption stützen, die die Tätigkeiten der Forscher*innen in den wissenschaftlichen Praktiken angemessen erfassen kann. Bereits diese beiden Minimalbedingungen an Wissenschaftsfreiheit explizit zu machen, hat weitreichende Konsequenzen für die gegenwärtigen Debatten, weil es den Blick darauf verändert, was die zentralen Bedrohungen von Wissenschaftsfreiheit sind.