Die populäre Diagnose eines »postfaktischen Zeitalters« reagiert auf den Anstieg von Unwahrheiten in der Politik und die Feindseligkeit gegen, ja Verleugnung von wissenschaftlichen Ergebnissen. Sie trifft jedoch auf historische, begriffliche und erkenntnistheoretische Einwände: Unklar ist beispielsweise, wann das „postfaktische Zeitalter“ begann und was es gegenüber anderen Formen von Unwahrheiten in der Politik (Lügen, Ideologie, Propaganda etc.) auszeichnet. Zudem verbreitet die Diagnose das idealisierte Bild einer einheitlichen Wissenschaft, dem reale wissenschaftliche Praktiken nie entsprechen können, und fördert so das Misstrauen gegen Wissenschaften. In seinem Vortrag entwickelt Frieder Vogelmann daher eine Alternative, die Wissenschaften gegen ihre Leugnung verteidigen kann, ohne sie zu verherrlichen, und die dennoch geeignet ist, Unwahrheiten in der Politik entgegenzutreten.
Seit Jahren geistert der Begriff des postfaktischen Zeitalters durch Feuilletons und Fachzeitschriften und meint damit unsere Zeit, in der Verschwörungsmythen und Fake-News im Internet Konjunktur haben und demokratische Parteien von Persönlichkeiten geleitet werden, die einer Lüge nach der anderen überführt werden. Die Diagnose suggeriert, dass wir uns historisch in einer Phase befinden, in der Fakten und die Wahrheit weniger Wert sind als je zuvor. Gleichzeitig war unser Wissen über die Welt nie größer; man könnte auch sagen, nie waren wir näher am Erkennen des Wahren dran und doch wähnen wir die Wahrheit in der Krise. Dabei ist Wahrheit in unterschiedlichen Bereichen unserer Gesellschaft von großer Bedeutung. Sie wird in Gerichtssälen verhandelt, durch journalistische Recherchen enthüllt und mit Faktenchecks verteidigt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen sich ihr anzunähern und auf diese Weise unser Wissen zu mehren.
Doch was verstehen wir eigentlich unter Wahrheit: Wahrhaftigkeit? Wirklichkeit? An Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit? Gibt es die eine objektive Wahrheit, auf die sich alle Menschen auf diesem Planeten einigen können oder bestimmen der Ort, an dem wir leben, unsere Sozialisierung oder die Quelle einer Information, was wir für wahr oder unwahr halten?
Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich das Colloquium Fundamentale im Sommersemester 2023. Wir wollen unterschiedliche Perspektiven auf den Begriff der Wahrheit eröffnen und die Diagnose des postfaktischen Zeitalters diskutieren.