Obwohl ihr Werk in der deutschsprachigen Philosophie erst seit wenigen Jahren verstärkt diskutiert wird, zählen Linda Martín Alcoffs Bücher und Aufsätze seit den 1990er Jahren zu den innovativsten Beiträgen zu einer radikal auf die Gegenwart bezogenen Philosophie. Diese Bezeichnung erscheint uns passend: nicht, weil Alcoff in ihren philosophischen Texten die Geschichte (nicht nur der Philosophie) ignorieren würde, sondern weil sie jeweils von real existierenden sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen ausgeht. Die im Seminartitel genannten drei Themen sind dafür gute Beispiele und deuten zudem das Spektrum von Alcoffs Arbeiten an. Sie alle eint die sozial-situierte Herangehensweise, die historische, materielle und strukturelle Aspekte miteinbezieht:
Insbesondere in ihrem frühen Buch Real Knowing (1996), aber auch in späteren Aufsätzen zur Erkenntnistheorie des Nichtwissens beschäftigt sich Alcoff damit, wie eine Erkenntnistheorie aussehen müsste, die nicht mit abstrakten Beispielen oder Definitionsfragen beginnt, sondern in den politischen und sozialen Praktiken ansetzt, in denen wir über Wahrheit streiten, Wissen generieren oder Ignoranz gegenüber bestehendem Wissen perpetuieren.
Ebenfalls von Anfang an stellt Alcoff die Frage danach, wie wir philosophisch und politisch mit Geschlechterdifferenzen, Gendernormen und Sexualität umgehen können und sollen. Ihre Überlegungen gelten gleichermaßen Problemen der feministischen Erkenntnistheorie wie der phänomenologisch angemessenen Konzeptualisierung von sexuellen Praktiken und insbesondere sexueller Gewalt.
Ein dritter Schwerpunkt von Alcoffs Philosophie betrifft »sichtbare Identitäten« und insbesondere die Zuschreibung von Identitäten auf Basis der wahrgenommen race. Welchen Status haben solche Identitäten und wie lässt sich Identität überhaupt philosophisch auf den Begriff bringen? Auch bei diesem Thema verbindet Alcoff philosophisch-begriffliche Erwägungen mit handfesten politischen Problemen, beispielsweise der seit den 1990er Jahren immer wieder heftig diskutierten Frage, wer für welche Gruppe sprechen darf – und damit einhergehend auch die Frage, ob und inwieweit soziale Identität erkenntnistheoretisch relevant ist oder sein sollte.
In dem Seminar wollen wir anhand dieser drei Themen einen Einblick in das philosophische Werk von Linda Martín Alcoff bieten – und zugleich in die politisch-philosophischen Diskussionen über die genannten Themen.
Preparatory Reading
Alcoff, Linda Martín (1996): Real Knowing. New Versions of the Coherence Theory. Ithaca, NY: Cornell University Press.
Alcoff, Linda Martín (2006): Visible Identities. Race, Gender, and the Self. Oxford: Oxford University Press.
Alcoff, Linda Martín (2018): Rape and Resistance. Understanding the Complexities of Sexual Violation. Cambridge: Polity.
Alcoff, Linda Martín (2023 [1991]): Das Problem, für andere zu sprechen. Übersetzt von Valerie Gföhler. Hrsg. von Marina Martinez Mateo. Stuttgart: Reclam.
Requirements
Das Seminar richtet sich vorrangig an Studierende im MA bzw. am Ende des BA. Vorkenntnisse in der analytischen Philosophie, kritischer Theorie oder Foucault sind überaus hilfreich, aber nicht zwingend nötig.
Assessments
Bitte sehen Sie in den Seminarplan, sobald dieser verfügbar ist.